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nicht genug Vermögen (besäßen).“ Er beschrieb damit die Situation, in welcher sich zu
diesem Zeitpunkt sowohl die etwa 200 Deutschen, die sich als Ausländer im Gouvernement
Tiflis aufhielten, als auch die fast 4.000 deutschen Kolonisten in Transkaukasien befanden.
Doch das sollte sich schon bald ändern.
Der russisch-türkische Krieg, der Eisenbahnbau und die Erdölförderung waren Faktoren,
welche die Nachfrage nach Produkten, die in den Dörfern der Kolonisten hergestellt
wurden, sprunghaft anstiegen ließen und zugleich neue Wege für den Absatz überschüssiger
Produkte erschlossen. Obst- und Weingärten versorgten die Armee mit Dörrobst, ca. 70
Schnapsbrennereien sowie Winzereien hatten im Militär einen zuverlässigen Abnehmer.
Mit Mehl von 13 Mühlen wurden nicht nur die Kolonien versorgt, sondern auch
Zwieback für das Militär hergestellt. Seifensiedereien, Käsereien, Tischlereien, Stellmacher,
Schmiede, Küfer, Wagenbauer und andere Gewerke hatten ihren Anteil beim Erblühen der
Kolonistendörfer. Von insgesamt 170 Handwerksmeistern lebten allein 64 in Helenendorf.
Insbesondere Wagenbauer - wie die Familien Frick und Votteler - waren bis nach Persien
geschätzt. Helenendorf und seine Nachbargemeinden stellten nicht nur Fuhrleistungen für
die Armee, sondern produzierten und verkauften die zu diesem Zeitpunkt im Kaukasus
wenig bekannten vierrädrigen Wagen.
Mit einer jährlichen Produktion von bis zu 1.600 Stück bei einem Verkaufserlös von bis
zu 600 Rubel pro Wagen allein in Helenendorf (durchschnittlich 160 Rubel waren es noch
vor dem 1. Weltkrieg), war nicht nur ein lohnenswerter Nebenerwerb für die erntefreie
Zeit gefunden, sondern ein erfolgversprechender Beruf für jene Kolonistensöhne, die nicht
erbberechtigt waren. So konnte einerseits der Abwanderung Einhalt geboten werden, und
andererseits blieben Wissen und Arbeitskraft der Kolonie erhalten.
Die Ergänzung der landwirtschaftlichen Tätigkeit durch Handwerk und Gewerbe war ein
wichtiger Faktor, der den Gemeinden nicht nur die Selbstversorgung und damit eine große
Unabhängigkeit sicherte, sondern eine weitere Entwicklung ermöglichte. 1915 arbeiteten
bereits 59 Stellmachereien, 35 Wagenschmieden, eine Eisengießerei, zehn Schlossereien, 29
Böttchereien und 33 Tischlereien. Die Ausstattung jeder Kolonie mit Elektrizität ermöglichte
den Einsatz von Motoren und neuen Maschinen.
Ein zweites Geheimnis der blühenden Gemeinde war zweifellos der spezifische
Gemeinschaftssinn. Als gläubige Christen waren die kaukasusdeutschen Pietisten
überwiegend schwäbischdeutscher Abstammung. Sie suchten in Arbeit und Frömmigkeit
ihr Heil. Persönliches und gemeinschaftliches Wohlergehen waren für die Siedler eng
miteinander verbunden. Entsprechend wurden kommunale Fragen wie Schulbesuch,
Krankenfürsorge, Wasserversorgung, aber auch das kulturelle Leben gemeinsam beraten
und über die Gemeindekasse finanziert.
Wurdebis 1874nochdieKronschuldgetilgt,mitAusnahmederBeträge, dieals Schadenersatz
für Überfälle von der Regierung angewiesen worden waren, investierten die Gemeinden vor
dem Hintergrund von Agrarreform und Industrialisierung in Südkaukasien zunehmend in
Landerwerb, dieMechanisierung, die Veredlung und denAbsatz von Produkten. Das hatte nach